Eine Leserin meines letzten Blog-Artikels „Ich war doch dabei! - Erinnern wir uns richtig?“ vom 07.
April 2023 machte mich aufmerksam auf das Buch „Das trügerische Gedächtnis - Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“ von Dr. Julia Shaw. Lieben Dank dafür an dieser Stelle!
Die Autorin und Rechtspsychologin erklärt in ihrem Buch spannend und unterhaltsam warum wir unserem Gedächtnis nicht immer trauen können und widerspricht trotzdem vielen Verschwörungstheoretikern
bezüglich der oft überschätzten Manipulierbarkeit unserer Erinnerung. Dabei lotet sie sachkundig und mit vielen Studien belegt die Grenzen in die eine und andere Richtung aus. Sie erklärt wie
Erinnerung auf physiologischer Ebene funktioniert, wie wir unmögliche Erinnerungen enttarnen können, die Bedeutung von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Interesse und warum niemand ein untrügliches
Gedächtnis hat.
Einige Aspekte dieses Buches möchte ich hier aufgreifen:
Wann ist die Erinnerungsdichte am höchsten?
Die Erinnerungsdichte sagt, allgemein ausgedrückt, etwas über „die Menge an Material“, welche in unserem Gehirn hinterlegt ist. Die meisten Erinnerungen, also die höchste Erinnerungsdichte, bauen
wir in einem Alter zwischen 10 und 30 Jahren auf. Vor dem Alter von 5 Jahren haben die meisten Menschen fast keine Erinnerung. Dies hat hirnphysiologische Gründe. Unser Gehirn ist noch nicht
ausgereift. Es fehlen also noch wichtige Verbindungen zwischen einzelnen Hirnarealen, welche für die Speicherung von Information wichtig sind.
Bis zum Alter von 10 Jahren steigt die Erinnerungsfähigkeit allmählich an. Während der Teenagerjahre erreicht die Erinnerungsdichte ihren Höhepunkt. Dieser hält bis in die frühen 20er an und
fällt dann bis Anfang 30 wieder ab. Der Effekt wird in allen Kulturen beobachtet.
Die Erinnerung ist abhängig von der Erregung
Das Erinnern selbst, also der Vorgang des Abrufes des Materials unterliegt ebenfalls bestimmten günstigeren oder ungünstigeren Bedingungen. Um ein Ereignis möglichst gut aus dem Gedächtnis wieder hervor holen zu können gibt es eine optimale innere Erregung. Ist diese zu gering, sind wir also müde oder lethargisch, dann klappt es mit dem Erinnern nicht gut. Ist die Erregung zu hoch, haben wir Angst und sind z.B. unter Prüfungsdruck, so ist der Cortisol-Spiegel im Gehirn so hoch, dass die Gedächtnisleistung in dem Maße abnimmt, in dem der Stress zunimmt. Das Abrufen einer Erinnerung ist also von der Erregung abhängig in Form einer umgekehrten U-Kurve: Bei steigender Erregung steigt auch unsere Gedächtnisleistung - bis zu einem gewissen Punkt. Danach fällt die Gedächtnisleistung bei steigender Erregung immer weiter ab, bis sie sich gen Null bewegt.
Abrufinduziertes Vergessen
Erinnern ist nicht wie das Abspielen einer CD, oder das Lesen eines fest niedergeschriebenen Textes. Jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung abrufen, wird sie neu codiert und wieder abgelegt. Es ist ein bisschen wie bei der Flüsterpost: Jeder erneute Abruf einer Erinnerung bringt kleine Veränderungen mit sich. Die Erinnerung wird jedes Mal neu erzeugt. Mit dem Erinnern werden viele verschiedene Hirnareale erregt. Die Gesamtzusammensetzung einer Erinnerung, gespeist aus tausenden von Einzelinformationen, wie Geruch, Geschmack, visueller Eindruck, Emotion, Körperempfindung ist jeweils an anderen stellen unseres plastischen Gehirns codiert. Durch das Erinnern werden die verschiedenen Hirnareale erregt und die Einzelinformationen wieder zusammengeführt. Dabei werden auch „Nachbarinformationen“mit angeregt und können so mit abgerufen und in die Erinnerung fälschlicherweise mit eingebaut werden. Der Vorgang des Erinnern ist also weniger das Lesen eines gedruckten Buches, als das Herausziehen verschiedener Karteikarten, die wir nach jedem ansehen neu abschreiben und wieder ablegen. Kleine Schreibfehler führen dann zu immer weiteren Veränderungen. Die Erinnerung wird bei jedem Abruf von Grund auf neu erschaffen und wieder abgelegt.
Wie sich Falschinformationen in unser Gedächtnis einschleichen können
Bei einem Versuch von Jason Chan und Jessica LaPaglia wurde Versuchspersonen ein Film von einem Terrorangriff gezeigt. Bei den anschließenden Interviews fügten die beiden Forscher*innen gezielt
Falschinformationen hinzu. So wurde den Probanden gesagt, dass die Angreifer nicht mit einer Injektionsnadel, sondern mit einem Elektroschocker gedroht haben. Beim erneuten Abfragen der
Probanden, flossen diese falschen Infos in die Erinnerung ein.
In diesem Versuch konnte gezeigt werden wie die biochemische Erinnerungsprägung im Gehirn umstrukturiert werden kann. Alte richtige Erinnerung (Injektionsnadel) wurde vergessen und durch neue
falsche (Elektroschocker) ersetzt. „Jedes Ereignis wird so jedes Mal, wenn es abgerufen wird, physiologisch anfällig für Verzerrungen und Vergessen.“ (Shaw, Julia: Das trügerische Gedächtnis,
2018, S.86)
Fuzzy-Trace-Theorie
Unsere Erinnerungen werden physiologisch in unterschiedlichen Teilen des Gehirns gespeichert. Beim Prozess des Erinnerns werden diese verschiedenen Teile im Gehirn aktiviert und verbinden sich
untereinander neu, um die komplexe Erinnerung wiederherzustellen. Wir haben ein assoziatives Gedächtnis. Dabei kann es passieren, dass wir, wie schon oben beschrieben, Erinnerungsbruchstücke mit
assoziieren, die nicht zum Ereignis gehören.
Die Fuzzy-Trace-Theorie geht davon aus, dass wir beim Erinnern zwei Prinzipien unterliegen: Der gist trace und der verbatim trace. Erstere speichert das ab, was wir als das Wesentliche
eines Ereignisses wahrnehmen, also zum Beispiel, dass es ein Treffen mit einer Freundin in einem Café gab. Die verbatim trace beinhaltet wortwörtliche Komponenten, zum Beispiel das konkrete Café
in dem das Treffen stattfand, genau der Tisch, an dem wir saßen, oder Sätze die gesprochen wurden. Diese beiden Spuren werden im Gehirn separat voneinander abgespeichert und beim erinnern wieder
zueinander gefügt. Dabei kann es sein, dass wir zwar noch diese wage Erinnerung an ein Treffen mit der Freundin haben und auch die zugehörige Atmosphäre wissen, aber keine konkreten Details mehr
wissen. Unser Gehirn beginnt dann zu assoziieren. Und zu ergänzen „was Sinn macht“, also, was gewesen sein könnte. Zum Beispiel fällt uns ein konkretes Café ein, bei dem die Sonne so schön durch
die Fenster scheint. Da wir das Treffen mit der Freundin als warm, hell und angenehm gespeichert haben, assoziieren wir, dass es jenes bestimmt Café gewesen sein muss, in dem wir uns
trafen.
Umgekehrt kann es sein, dass wir bestimmte konkrete Details erinnern und daraus Rückschlüsse ziehen, dass es sich angenehm oder unangenehm angefühlt haben muss.
Auch sind wir mit diesen Assoziationen sehr manipulierbar. Wenn eine andere Person sehr überzeugt davon ist, dass der Kuchen im Café ganz köstlich war, dann neigen wir dazu dieses Detail in
unsere Erinnerung als eigene Erinnerung zu integrieren. Vielleicht fällt uns noch ein Bild eines Kuchens ein, den wir zu der Zeit immer sehr gerne aßen. Und schon haben wir Verknüpfungen
hergestellt, die an dieser Stelle nicht zusammen gehören, beim nächsten Erinnern an das Ereignis aber eventuell gemeinsam abgerufen werden.
Verbindung zur Gestaltpsychologie
Die oben beschriebenen Studien weisen in die gleiche Richtung, wie auch schon Untersuchungen aus der Gestaltpsychologie (die für die Gestalttherapie namensprägend war). Unser Gehirn bildet bei allem, was wir wahrnehmen sinnhafte Gestalten. Du kennst bestimmt die Kippbilder, die entweder zwei sich gegenüber stehende Gesichter oder eine Vase zeigen. In einem solchen Bild können zwei „Gestalten“ gebildet werden: Die Vase oder die beiden Gesichter. Kippbilder machen deutlich, dass unser Gehirn immer versucht etwas zu erkennen, was Sinn ergibt. Mehr dazu im Blog-Artikel: Was ist Gestalttherapie? - Beschreibung und fachliche Bezüge
Wie viel dessen was um uns geschieht können wir erinnern?
Dr. Julia Shaw zitiert dafür ein anschauliches Beispiel: Ein weißes Blatt Papier versinnbildlicht das, was in der Welt um uns geschieht. Das in der Mitte gefaltete Blatt steht für das, was wir wahrnehmen. Eine erneute Halbierung das, was unsere Aufmerksamkeit erregt. Die weitere Faltung des Blattes zeigt, worauf wir unser Interesse richten, die nächste Faltung das, was in Engramme codiert wird und die letzte Halbierung das, wozu wir Zugang haben und was wir später wieder abrufen können. Schlussendlich können wir also rund 3% dessen, was um uns geschieht später erinnern. Alles in allem dann doch eher ernüchternd.
Gedächtnis als physiologische Spur im Gehirn
Unser Gehirn besteht aus fast 90 Milliarden Nervenzellen. Diese Nervenzellen bilden Erregungsleitungen in denen sogenannte Engramme zu finden sind. Engramm (von griechisch en, „hinein“, und gramma, „Inschrift“) ist eine allgemeine Bezeichnung für eine physiologische Spur, die eine Reizeinwirkung als dauernde strukturelle Änderung im Gehirn hinterlässt. Die Gesamtheit aller Engramme – es sind Milliarden – ergeben das Gedächtnis. (https://de.wikipedia.org/wiki/Engramm)
Welche Rolle spielt die Aufmerksamkeit für die Erinnerung?
Aufmerksamkeit ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Erinnerungsbildung. Julia Shaw widerlegt eindrücklich, dass wir durch Hypnose oder Botschaften, die uns unterhalb der
Bewusstseinsgrenze übermittelt werden (sublininale Botschaften) relevant beeinflusst werden können. Sie sieht in diesen Ideen nicht mehr als „kreative Fiktionen“ (Shaw, Julia: Das trügerische
Gedächtnis, 2018, S. 156)
Um etwas zu lernen reicht es nicht, es nur anzusehen. Wir müssen ihm die volle Aufmerksamkeit schenken, innerlich auf die Informationen, die wir aufnehmen möchten, fokussiert sein. Wir müssen
Muster (oder „Gestalten“) erkennen und unwichtige Informationen, die wir zeitgleich aufnehmen herausfiltern.
Aufmerksamkeit bedeutet filtern von Informationen, d.h. wir treffen eine Auswahl von Informationen, die wir weiterverarbeiten und Hemmen die Aufnahme anderer irrelevanter Informationen, z.B.,
dass uns beim Lesen des Artikels gerade ein leichtes Hungergefühl überkommt oder eine Person durch den Raum geht.
Können wir im Schlaf lernen?
Der Schlaf scheint für uns wichtig zu sein, um Erinnerungen auf neuronaler Ebene zu verfestigen und von unnützem zu bereinigen. Im Schlaf bilden sich vermehrte Verbindungen an den Dendriten der
Nervenzellen, so dass die Zellen, die über Synapsen miteinander verbunden sind den Datenweiterleitungsstrom verstärken. Überschüssige Botenstoffe, wie Glutamat, die während des Tages für die
Funktionsweise des Gehirns wichtig sind, werden über Nacht abgebaut. Miteinander verbundene Gedächtnisengramme können während des Schlafes verstärkt oder zurück gestutzt werden. Eventuell ist die
Aktivierung der Engramme das, was wir als Traum wahrnehmen. Im Schlaf finden also Aufräum- und Reorganisationsprozesse von, während des Tages aufgenommenen Informationen, statt.
Der Schlaf ist ein wesentlicher Faktor, wenn es darum geht etwas Erlerntes gut zu behalten. Da wir im Schlaf aber unsere Aufmerksamkeit nicht bewusst richten, z.B. auf die Vokabeln eines
fremdsprachigen Hörbuches, in der Hoffnung unsere Sprachkenntnisse zu verbessern, können wir leider nicht im Schlaf lernen. Bewusst gerichtete Aufmerksamkeit ist die Voraussetzung.
Und wie enttarne ich falsche Erinnerungen?
Zum Thema Enttarnung von falschen Erinnerungen schreibt Julia Shaw, wie auch schon ihre Kollegin Elizabeth Loftus, dass dies schwer ist, da sie im Gehirn ebenso codiert werden, wie echte
Erlebnisse. Es hilft also nur der Faktencheck (Wenn du dich z.B. ganz sicher erinnerst, den Bau der Elbphilharmonie schon 1984 vom Kinderwagen aus beobachtet zu haben, dann ist Skepsis
angesagt.).
In diesem Sinne: Vertraue auf deine Intuitionen und bleibe offen für das subjektive Erleben der anderen. Löse Konflikte im Hier und Jetzt.
Hab einen luftig-lichten Sommer!
Ich freue mich über Kommentare, Widersprüche, Gedanken von dir.
Herzlichst,
anne
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