Selbstregulation in Krisenzeiten - Wenn sich meine alte Macke wieder meldet

„Wir standen nebeneinander vor dem Kühlschrank und überlegten was wir trinken wollten. Die Kühlschranktür war ziemlich weit offen. Ich habe gemerkt, wie ich ganz kribbelig wurde. Habe es kaum ausgehalten, wie lange er die Tür jetzt schon auf hielt. Dann habe ich hinter ihn gegriffen und die Tür einfach zugeschoben. Ich habe mich sofort geschämt. In mir ging gleich ein innerer Dialog los: Wir haben eine globale Krise! Wir müssen Energie sparen! Die andere Seite in mir spürte, dass sie gerade eine Grenze überschritten hatte. Ich hab mich voll geschämt ihm einfach so die Tür vor der Nase zugeschlagen zu haben. Dabei wollte er nur seine Entscheidung in s e i n e m Tempo treffen. Ich hab mich voll streng gefühlt und übergriffig.“
Mit dieser Geschichte kam Sonja (die im echten Leben anders heißt) zu mir in die Praxis. Sie war unglücklich darüber, dass sie sich in diesem Moment nicht hatte beherrschen können. Wir entschieden uns in der Sitzung die Angelegenheit ein bisschen genauer anzusehen.

Arbeit mit inneren Anteilen

Wenn ein*e Klient*in zu mir kommt und das diffuse Gefühl hat: In dieser Situation ist etwas schief gelaufen, ich war danach unglücklich, hatte Schamgefühle oder Emotionen, die ich nicht zuordnen kann, dann können wir die beiden inneren Anteile miteinander ins Gespräch bringen. Im Fall von Sonja, den strengen Anteil und den Teil, der sich schämt. (Zur Arbeit mit inneren Anteilen siehe auch Blogartikel: Umgang mit zu großer Last - eine Geschichte aus der Praxis)

Die Motivation

Sonja war sich dieser beiden widerstreitenden Anteile bereits bewusst. Deshalb konzentrierten wir uns darauf, zu ergründen, was den Anteil, der die Tür zuschlug, motiviert hatte. Es zeigte sich, dass es ein ganz altes Gefühl aus ihrer Kindheit war: Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie 11 Jahre alt war. Wie viele Kinder mit solchen Erfahrungen, fühlte auch die 11-jährige Sonja sich dafür verantwortlich. Ein Teil in ihr dachte daher er müsse die Situation retten. Nur er sei in der Lage das Ruder rumzureißen. Die aktuelle Krisensituation in der Welt hatte diesen Anteil wieder aktiviert und in den Vordergrund gebracht. Wer sollte die Welt retten, wenn nicht Sonja?!

Ein typisches Phänomen.

Aktuelle Krisen aktivieren alte „Lösungsstrategien“. Wenn du als Kind z.B. Verantwortung für etwas übernommen hast, was deine Eltern nicht lösen konnten, dann werden Krisenzeiten im Erwachsenenleben diesen alten Impuls für dich wieder spürbar machen. Manchmal merkst du es. Manchmal übernehmen die alten Rettungsstrategien aber auch unbewusst, ohne dass du es mitbekommst.

Was kannst du heute tun?

• Ergründe woher es kommt

Unser Verhalten macht Sinn. Das heißt nicht, dass wir uns in jeder Situation angemessen verhalten. Es kann sein, dass unser Verhalten an manchen Stellen im Hier und Jetzt sogar unverständlich erscheint oder kontraproduktiv ist. Um zu verstehen, warum wir dieses merkwürdige Verhalten trotzdem an den Tag legen, kann es hilfreich sein zu ergründen, welchen ursprünglichen Zweck es hatte. Denn wir tun nichts einfach nur so. Unser Organismus ist auf Selbsterhalt ausgelegt. Eine einmal hilfreiche Strategie wird in ähnlichen Situationen wieder angewandt. Es hatte ja damals geholfen. Dies geschieht meist unbewusst. Wenn wir erkennen, dass wir gerade eine alte Strategie anwenden, können wir meist auch herausfinden woher sie kommt und was dieser innere Teil in mir braucht.

• Mitgefühl mit dem kindlichen Anteil

Als Kinder sind wir in besonderem Maße von unserem sozialen Umfeld abhängig. Wir müssen also in dem System, in dem wir aufwachsen, eine Lösung finden. Ist die Rolle des lauten und rebellischen Kindes schon durch ein Geschwister besetzt, so werden wir vielleicht still und zurückgezogen. Wendet sich ein Geschwisterkind ab, so sind wir vielleicht die Brave, die den Eltern die Wünsche von den Lippen abliest. Wir suchen unseren Platz, um gut (über-)leben zu können. Wird in einer Familie immer beschwichtigt, so wie es bei Sonja war, so übernimmt ein Kind eventuell die Rolle des Rauchmelders. Der Rauchmelder in einer Familie ist diejenige Person, die immer kontrolliert und Alarm schlägt. Der Rauchmelder fühlt sich für das Überleben der Familie zuständig und hat ein Gefühl von: Wenn ich nicht aufpasse, dann passiert etwas Schlimmes. Solche Personen fühlen sich sehr verantwortlich, neigen aber auch dazu überall Gefahren zu sehen und andere darauf hinzuweisen. Das kann, so wie bei Sonja, zu übergriffigem Verhalten führen. Für Sonja ist es aber nun wenig hilfreich sich dafür zu schelten. Denn ihr innerer Druck ist in diesem Moment hoch. Etwas in ihr war in Stress geraten. Und ihr Verhalten hatte einmal Sinn gemacht. In der psychotherapeutischen Aufarbeitung einer solchen Situation braucht das Kind, welches wir einmal waren, Mitgefühl. Es hatte aus Not gehandelt und verdient für seine Bemühungen Wertschätzung. Es möchte in seiner damaligen Kompetenz gesehen werden. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es damals sein Bestes getan hat. Und das Kind, welches als innerer Anteil in uns auch heute noch aktiv ist, braucht Hilfe. Was hätte die kleine Sonja von damals gebraucht, als sie so überfordert und voller Angst war? In der Sitzung spürt Sonja: Sie hätte eine erwachsene Person an ihrer Seite gebraucht, die sie unterstützt und beschützt. In der therapeutischen Arbeit können wir Sonja eine solche Person an die Seite stellen und so ein Stück weit die alten Wunden heilen.

• Nimm es mit Humor!

Die oben beschriebene Arbeit hilft oft im Heute, die automatisierten alten Muster nicht mehr auszupacken. Aber, machen wir uns nichts vor, alte Muster sitzen tief und können nicht so schnell überwunden werden. Wir werden uns also immer wieder einmal bei solchen alten Geschichten ertappen. Was dann? Es ist kein Drama! Mach die Sache nicht größer als sie ist. Nimm es mit Humor: „Oh, da bist du ja wieder, mein alter Freund!“. Wir sind Menschen, wir machen Fehler. Und wir sind liebenswert gerade, weil wir nicht perfekt sind. In der Partnerschaft hilft an diesen Stellen Großmut. Sprich es bei deiner*m Partner*in an. Mach es dir nicht zu schwer. Verzeih dir. Denke an das kleine Mädchen, den kleinen Jungen, der du warst, als du diese Strategie entwickelt hast. Damals war es eine gute Lösung. Und heute passiert es dir noch manchmal. Und so sind wir. Einfach menschlich!

• Was brauche ich, um mich in einer schwierigen Situation zu regulieren?

Und manchmal reicht Humor nicht aus. Es überkommt dich eine Schwere, die du nicht weg lächeln kannst. Dann braucht das Kind von damals noch mehr Aufmerksamkeit. Was kann dein Erwachsenen-Anteil von heute deinem Kind-Anteil geben, um es zu trösten? Sprich mit ihm, so wie du mit einem Kind sprechen würdest: „Ach, Mensch, das ist ja doof. Guck einmal, es ist gar nicht deine Aufgabe. Ich, Erwachsene, ich kümmere mich jetzt darum. Du darfst spielen gehen.“ Solche oder ähnliche Sätze können einen inneren Anklang finden. Probiere, was für dich passt.

 

Warum kommt das jetzt wieder hoch? Ich dachte, das hätte ich längst hinter mir.

In Krisenzeiten geraten wir innerlich unter Druck. Dann passiert es uns, dass wir in alte Verhaltensweisen rutschen. Das ist ganz normal.
Wenn du bemerkst, dass du gerade wieder Dinge tust oder denkst, die länger kein Thema mehr waren, dann halte inne. Frage dich, was dich gerade so unter Druck setzt. Die aktuellen Krisen in der Welt können Auslöser sein. Aber auch persönliche Herausforderungen, wie die Geburt eines Kindes oder eine neue Partnerschaft. Versuche herauszufinden was dir gut tut:
Mit Freunden sprechen? Gleichgesinnte finden? Dich ein bisschen zurückziehen und die Informationen aus der Welt genau dosieren? In die Natur gehen? Kulturelle Genüsse? Mach dir eine Liste welche Aktionen dir gut tun und hilfreich sind. Achte auf deine innere Anspannung. Was kannst du noch tun, um dich entspannter zu fühlen? Was hat dir schon früher geholfen?

Sonja hat für sich am Ende der Sitzung übrigens einige gute Strategien gefunden. Sie verließ leichten Fußes und schmunzelnd die Praxis.

 

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Ich freue mich über deinen Kommentar.

 

Herzlichst,

anne

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Mona (Dienstag, 13 September 2022 13:19)

    Liebe Anne, danke für deine immer erhellenden Artikel :-)
    Und danke, dass ich mit deiner Unterstützung auch ein paar "Macken" von mir kennen und annehmen lernen dürfte.
    Viele Grüße,
    Mona

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Anne Schricker | Heilpraktikerin für Psychotherapie / 040 31 81 43 23 / info@anne-schricker.de