Gesellschaft und Individuum
Nie war die Gesellschaft so offen für Psychotherapie wie jetzt. (Anm. 1 s.u.) Natürlich gibt es die Hemmung offen darüber zu sprechen noch immer. Natürlich haben immer noch viele Angst vor Stigmatisierung oder Abwertung. Noch immer gibt es die Meinung Psychotherapie machen Menschen, die schwach oder krank sind. Beides möchte man nicht sein.
Therapie oder Coaching?
Und so laufen wir auch nicht unbedingt mit einem T-Shirt durch die Gegend, auf dem steht: „Übrigens mache ich eine Psychotherapie.“ Und trotzdem: Es gibt ein immer breiteres Angebot für die
Schulung von Achtsamkeit, für Meditation, Yoga, Selbsterfahrung und diverse Coachings. Vieles davon ist auch bewusst im Zwischenbereich von Hobby, Freizeitaktivität, Sport und der klassischen
Psychotherapie angesiedelt. Auf das T-Shirt oben würden wir also eher „Ich habe MBSR für mich entdeckt“ schreiben, als „Ich komme einfach mit meinem Stress nicht mehr klar.“ Label können da
helfen. Die richtige Wortwahl für das, was man da in Anspruch nimmt. Auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass einige Menschen lieber zum Coaching zu mir kommen würden, als zur Psychotherapie.
Die Grenzen sind ja auch fließend.
Coaching hört sich anders an: nach Selbstentwicklung, nach Stärke, nach „ich kann“ und nicht nach „ich kann nicht mehr“.
Individualisieren wir gesellschaftliche Probleme?
Fakt ist: Die Sparte rund um unsere - sagen wir einmal: Psychohygiene, wächst gewaltig. Und das ist gut so. Wir gönnen uns die Zeit für die eigene Entwicklung, Fürsorge, Potenzialentfaltung. Das
ist toll. Auch sind immer mehr Leute bereit, sich auch auf tiefere Prozesse einzulassen und emotionale Wagnisse einzugehen.
Und: Der Artikel Die große Seelenschau aus Die Zeit vom 19. Mai 2022 hat mich, bei der morgendlichen Lektüre mehrmals laut „Ja, ja. Ja!“ rufen lassen. Er wirft die Frage auf, inwiefern wir
gesellschaftliche, soziale und globale Problematiken individualisieren. Und auch der Film „Triangel of Sadness“ von Ruben Östlund der gerade in Cannes den Hauptpreis gewonnen hat, befasst sich
damit. Östlund sagt, wir versuchen Probleme auf individualisierte Art und Weise zu klären und das Individuum zu ändern, so dass wir das System beibehalten können. Probleme werden
individualisiert, ohne das System im Frage zu stellen oder zu überprüfen.
Macht, Ohnmacht und Ermächtigung durch Verbundenheit
Inwiefern versuchen wir also einen Umstand: z.B. dass wir mit der Bedrohung durch den Klimawandel einfach nicht mehr fertig werden, oder den Druck durch permanente Verfügbarkeit, als eigenes persönliches Problem wahrzunehmen. Natürlich, es geht immer auch darum: Wie kann ich mit Gegebenheiten umgehen und klarkommen. Und: Vergessen wir zunehmend dabei, den Einschub: Wie kann ich mit Gegebenheiten, die ich nicht ändern kann, klarkommen? Oder haben sich unsere Bewertungen verschoben? Fühlen wir uns so, als könnten wir es nicht (mehr) ändern? Ohnmächtig, ausgeliefert? Und ist es da immer der richtige Weg zu versuchen uns selbst zu verändern und anzupassen, coping-Strategien dafür zu entwickeln? Individualisieren wir gesellschaftliche Probleme, statt dafür bzw. dagegen auf die Strasse zu gehen? An der gesellschaftlichen Veränderung zu arbeiten? Uns in demokratische Prozesse aktiv einzubringen? Es zu sehen als ein: Wir müssen das anders machen. Wir müssen andere Wege finden. Wege im Miteinander, im sozialen Ausgleich und Wege der Erhaltung unserer existenziellen Grundlagen? Lasst uns uns verbinden. Lasst uns gemeinsam darum ringen.
Gestalttherapie als Möglichkeit
Und hier bin ich wieder bei der Verbundenheit, die ich in meiner Arbeit - in der Arbeit von uns Gestalttherapeuten*innen - als so zentral sehe. Ja, es geht um die Verbindung mit mir selber. Und,
es geht immer auch um die Verbindung mit den Mitwesen. Mit unseren Mitbewohnern auf diesem wunderbaren kostbaren, grünen Planeten. Mit den anderen Menschen, ob sie uns nah sind oder fern. Mit den
Tieren rund um uns, der Ameise, dem Vogel, dem Hund oder der Kuh. Wie unterscheide ich ein Streicheltier von einem Tier, das ich esse. Das ist eine ernst gemeinte Frage: Wie mache ich das
eigentlich innerlich? Die Verbindung mit allem Lebendigen und Unbelebten rund um mich. Wir sind eingebettet. Alles hängt mit allem zusammen. Wie machen wir das, dies nicht mehr zu spüren?
Inwiefern kreisen wir nur um uns selbst? Gib mir die Kraft, das zu verändern, was ich ändern kann und das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Und gib mir die Kraft das eine vom anderen zu
unterscheiden. (Anm. 2 s.u.)
Wir sind alle gemeinsam auf diesem Planeten. Wir können nur gemeinsam aufhören uns dieser Grundlage zu berauben. Wir brauchen zumindest die allermeisten von uns dafür.
Und ich denke durchaus, dass meine Grundlage die Kraft dafür zu haben und immer wieder zu gewinnen, die Selbstfürsorge ist. Verlieren wir die Verbindung zu uns selbst, wie sollten wir da
Verbundenheit mit unseren Mitmenschen, mit der Natur finden?
Selbstfürsorge und gesellschaftliches Engagement
Wenn ich die Frage, die Frage von Stefanie Kara und Rudi Nowotny aus ihrem Zeit-Artikel, noch einmal aufgreife, dann möchte ich sagen: Ja, ich denke, es besteht die große Gefahr eines
Missverständnisses, dass ich nur mich selber ändern muss, um mit den Umständen klar zu kommen. Aber wir sind nicht alleine. Wir leben in Kontexten. Wenn viele Individuen einer Population krank
werden, dann ist das kein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches. Und zwar in beide Richtungen, bezüglich der Ursache, als auch der Lösung. Und: Wir können an uns selber arbeiten,
um die Kraft zu finden, das zu erkennen und darüber mit anderen in den Diskurs zu gehen. Achtsam mit mir und mit meinem Gegenüber.
In Liebe,
anne
P.S.: Ich freue mich in den Kommentaren deine Gedanken zu lesen.
Anm. 1: „Die Deutschen erkunden ihr Inneres wie nie zuvor.“ ist der Untertitel des Artikels „Die große Seelenschau“ aus Die Zeit N° 21 vom 19. Mai 2022.
Anm. 2: In Abwandlung von: Das Gelassenheitsgebet von dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr.
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