Das Haus der tausend Gefühle

Ulis Raum der Vergnüglichkeit

Noch heute Morgen im Halbschlaf beschloss er den Raum mit der Vergnüglichkeit aufzusuchen. Und so geht er in den ersten Stock, die leicht knarzende gemütliche alte Holztreppe hoch. Die Katze streicht ihm um die Beine. Er muss aufpassen, schlaftrunken, wie er ist, nicht zu stolpern. Sie versucht achten zu laufen. Immer um ein Bein herum, zwischen seinen Beinen hindurch und um das andere Bein. Immer um maximalen Körperkontakt bemüht. Ihr wippender flauschiger Schwanz kitzelt seine nackte Kniekehle. Uli vernimmt ein kräftiges Schnurren. Der gesamte wollig-weiche Katzenkörper vibriert. Die Schwingung überträgt sich auf seine Beine und wandert hinauf. Ein tiefer Atemzug. Seine Mundwinkel heben sich leicht. Er nimmt sie auf den Arm. Schwer, weich, wie über seine Hand gegossen. Auf dem Arm fasst er kraulend in ihr weiches Fell. Sie blickt ihm mit halbgeschlossenen Augen ins Gesicht. Fixiert seinen Blick. Schnurrt ihn an und stupst mit ihrer Nase gegen die seine.
Er beschließt sie mitzunehmen, denn er weiß, sie gehört schon mit zu seiner Vergnüglichkeit. Manchmal begleitet sie ihn auch mit in andere Räume. Sie ist sein Seelentier, sein guter Hausgeist, sein fellgewordenes Ich.
Seine Vergnüglichkeit wohnt hier im ersten Stock im Süd-Ost-Zimmer, links um die Ecke. Er tritt vor die Tür. Diese Tür liebt er: Holz, hell lackiert. Ein warmer Weißton. Eierschalenfarben. Ein breiter Holzrahmen. Die Füllung mit fließend runden Kanten abgesetzt. Er streicht mit den Fingerkuppen über den alten, aber noch wunderschön glatten Lack. Fährt die Erhebungen und Vertiefungen der Türblattfüllung nach. Winzigkleine Erhebungen, wo eine Luftblase unter dem Lack eingeschlossen ist, oder ein Staubkorn. Ein lustvolles Kribbeln unter den Fingern. Es setzt sich in einer Welle durch seinen ganzen Körper fort. Bis es durch seine Fußsohlen in den Boden fließt.
Er legt die Hand auf die Türklinke. Das kühle und ornamental geformte Metall schmiegt sich in seine Hand. Er weiß, wie seine Hand riecht, wenn er die Metallklinke angefasst hat. Er braucht nicht riechen. Der Geruch ist schon in seiner Nase. Mit einem Klacken öffnet sich das Schloss der Tür. Der sich verbreiternde Türspalt ergießt eine Sonnenstrahldusche über ihn. Er blinzelt. Die Katze schließt die Augen. Sie hüpft von seinem Arm und läuft voraus ins Zimmer. Der Staub tanzt in der Luft. Glitzert wie Gold. Es riecht warm, vertraut, ein bisschen holzig-herb. Der flauschige, dicke Spielteppich erstreckt sich über den Boden. Er taucht mit seinen nackten Fußsohlen hinein. Die Wollfransen quellen zwischen den Zehen hindurch und die Fersen hinauf. Der Teppich-Woll-Wellen-See umfließt ihn. Er streckt sich mit einem wohligen Seufzen auf ihm aus. Der Atem durchströmt ihn. Er spürt, wie die Luft ihn weitet, erhebt und wieder sinken lässt. Der Boden trägt ihn, hält ihn. Die Luft ist spürbares Element. Umschmeichelt seinen Körper, dringt ein, strömt aus. Vermischt sich mit seinen Zellen, verbindet ihn mit der Welt, als wäre alles eins.
Die Katze kommt. Streicht um ihn herum. Steigt über ihn. Streckt und dehnt sich ebenfalls. Kommt auf seinen Bauch und tritt, weiter schnurrend, mit ihren Tatzen rhythmisch-massierend auf ihm herum. Er muss lachen. Einen Moment liegt er still auf dem Rücken. Sinkt noch ein Stückchen tiefer in den Teppich. Ein glucksendes Kichern in ihm. Die Katze rollt sich auf ihm zusammen. Durch die Fenster hört er die Vögel zwitschern. Es ist ein deutliches Kinderlachen zu vernehmen. Wo kommt das her? Es scheint hier in diesem Raum zu wohnen und legt ihm ein Lächeln auf´s Gesicht.
Als er die Augen öffnet sieht er den kleinen Jungen. Auch er strahlt über das ganze Gesicht. In freudiger Glückseligkeit hüpft er auf dem großen Bett herum. Ein Leuchten geht von ihm aus. Er springt und springt und sein ganzer kleiner Körper ist Lebendigkeit und Energie und Lachen. Das Hüpfen ist in ihm. Die Freude, die Lust. Alles voller Energie, Licht, Lachen. Wie groß das Zimmer ist. Bunt, hell und warm. Hier tankt er sich auf für den Tag.

Jedes Gefühl wohnt in einem anderen Raum. Du entscheidest wohin du gehst.

Die Vorstellung die eigenen Gefühle in verschiedenen Zimmern eines Hauses wohnen zu lassen habe ich in einem Vortrag der Traumatherapeutin Luise Reddemann gehört. Interessant an dieser Idee: Auf diese Weise habe ich es selbst in der Hand, welche meiner Gefühle ich wann besuchen möchte. Nicht die Gefühle kommen über mich, besuchen mich. Ich entscheide mich, welche Gefühle ich wann aufsuche. Durch Imagination kannst du das üben. Wie sieht dein Haus aus? Welche Gefühle könnten darin wohnen? Wie sind die Räume gestaltet? Wie ergeht es dir beim Besuch des einen oder anderen Raumes? Wie geht das, in einen Raum hineinzugehen? Und ihn wieder zu verlassen? Was macht ein Besuch eines der Räume mit dir? Probiere es aus. Wenn du Lust hast, male dein Haus, mache eine Collage, schreibe eine Geschichte dazu. Welche Erfahrung sammelst du mit dir? Möchtest du etwas davon mit uns in den Kommentaren teilen?
Ich freue mich auf deine Rückmeldung.

Möchtest du deine Gefühlsräume in einem geschützten Rahmen mit mir gemeinsam erkunden? Dann nimm Kontakt zu mir auf.

Ich freue mich auf dich!

anne

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Kommentare: 3
  • #1

    Renate (Samstag, 26 Februar 2022 06:22)

    Moin liebe Anne,

    danke für diese so bezaubernd geschriebene Idee, ein Haus der Gefühle einzurichten.

    Ich stelle mir morgens oft vor, dass ich mit Delfinen im Meer schwimme, auf dessen Grund Kristalle sind, die heilen.

    Da das Gehirn Realität und Imagination nicht wirklich unterscheiden kann, reagiert es auf die Bilder. So werden bei deiner Geschichte bestimmt Glückshormone gebildet. �
    Und schon verändert die die erlebte Realität durch die Imagination.

  • #2

    anne schricker GESTALTTHERAPIE (Samstag, 26 Februar 2022 08:02)

    Danke dir, liebe Renate, für deine wunderschöne Morgenimagination :-)
    Herzliche Grüße,
    anne

  • #3

    Heide (Montag, 07 März 2022)

    Das Thema Resilienz ist so wichtig und deshalb möchte ich dir für deinen Text danken, denn er hat mich auch noch einmal mehr auf die Spur gebracht, wie man schauen muss um nicht in innerliche Panik zu verfallen. Man lässt sich so leicht von dem Strom der Aufrege in den Medien mitreißen….Die Geschichte, mit der man sich in gute Gefühle beamen kann, hat mir sehr gefallen! Das kann ich für mich anwenden und meinen Trauernden in den Gruppen auch mitgeben als Methode.
    Heide (Sterbe- und Trauerbegleiterin)

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Anne Schricker | Heilpraktikerin für Psychotherapie / 040 31 81 43 23 / info@anne-schricker.de